Stadterkundung.com

Belarus: Minsk

Oktober 2018

Große Plätze wie der Unabhängigkeitsplatz mit den Regierungsgebäuden und der Oktoberplatz mit dem Palast der Republik erzählen von der Sozialistischen Sowjetrepublik. Geeignet für große Aufmärsche aber auch mit Bänken bestückt zum Verweilen. Den heute in der Stadt lebenden zwei Millionen Menschen wird reichlich Platz geboten.

Verbunden werden die Plätze durch eine breite Allee, dem Unabhängigkeits-Prospekt. Er zieht sich auf 24 Kilometern durch weite Teile der Stadt. Überall ist es äußerst sauber und ordentlich, kein Schnipsel Papier ist zu finden. Und die Menschen halten sich an die Vorgaben: wir sehen niemanden, der bei Rot über die Ampel geht. Auch die Autofahrer*innen sind sehr rücksichtsvoll und halten an, sobald man sich einem Zebrastreifen nähert.

An einigen Fassaden ist die CCCP (sprich: SSSR), die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken weiterhin präsent. Hammer und Sichel sind nicht vom Mauerwerk abgeschlagen und vor dem Regierungsgebäude steht weiterhin die große Leninstatue. Vielleicht sind hier die Unterschiede nicht so groß zwischen der UdSSR und der GUS, da man weiterhin eng verbunden (und abhängig) mit und von Russland ist?

Geändert hat sich der Umgang mit der Religion. Die Kirchen, die vor wenigen Jahrzehnten noch als Ausstellungs- und Veranstaltungsräume dienten, wurden renoviert bzw. rekonstruiert und strahlen heute wie Neubauten im alten Stil. An den Events der katholischen- und der russisch-orthodoxen Kirche nehmen viele Menschen teil – wenn der Pope schwadroniert, ist die Hütte voll. Ob es hier wohl auch eine Kopftuch-Debatte gibt?

Große Teile von Minsk wurden von den Deutschen im zweiten Weltkrieg zerstört und die Stadt musste nach 1945 wiederaufgebaut werden. Im Zentrum entstanden – angelehnt an die Architektur der Gründerzeit – große Häuserblocks entlang der Hauptstraßen. Und in den letzten Jahrzehnten wurden Teile der alten Innenstadt rekonstruiert. Minsk hat heute eine recht nette Altstadt.
Ein Gebäude, dass wir uns ansehen wollten, ist die ehemalige Kochfabrik. Im Reiseführer wurde sie als eines der wenig erhaltenen Gebäude im konstruktivistischen Stil der 1930er Jahre beschrieben. Dann sehen wir, dass das Gebäude gerade vollkommen neu gebaut wird – außer einer Mauer, die stehen bleibt. Es wird originalgetreu wiederaufgebaut und man wird sich nach der Fertigstellung wahrscheinlich wundern, wie gut das Gebäude erhalten ist.

Die Menschen, die wir in den Restaurants oder beim Einkauf trafen oder denen wir auf der Straße begegnen, sind zum großen Teil zeitgemäß modern gekleidet und sehr offen. Wir bekommen nicht den Eindruck einer eingeschüchterten Bevölkerung. Die Berichte über Einschränkungen persönlicher Freiheiten, die wir im Vorfeld sahen und lasen, sind auf der Straße nicht erkennbar. Es gibt keine (oder doch nur sehr vereinzelte) Präsenz von Polizei und Militär und es ist kein Problem, Gebäude, Straßen und Plätze zu fotografieren und sich frei zu bewegen.

Die große Markthalle des Komarowski-Marktes erinnert uns an Markthallen, die wir auch in anderen Ländern der ehemaligen UdSSR gesehen haben. Die Halle wurde 1979 gebaut und erlaubte schon damals eine gewisse private Wirtschaft: Erzeuger*innen konnten ihre Waren direkt verkaufen. Heute fragen wir uns, wie dutzende von Schlachtereien nebeneinander bestehen können – auch deshalb, da viele ein ähnliches Angebot haben. Aber es scheint ja zu laufen. Zum Feierabend zählt eine Verkäuferin die eingenommenen Rubel und Kopeken.

Das traditionelle Kaufhaus GUM am Unabhängigkeits-Prospekt verkauft nur Waren, die in Belarus hergestellt sind. Das imposante Treppenhaus mit Art-Déco-Elementen führt in vier Stockwerke. Diese sind weniger imposant und wir haben den Eindruck, im Realsozialismus gelandet zu sein. Die Verkäufer*innen interessieren sich nicht sonderlich für ihre Kundschaft. Und es gibt nur wenige Dinge, die uns interessieren. Ralf hat sich allerdings ein ganz tolles Hemd gekauft – Made in Belarus.

Am Prospekt der Sieger gibt es ein Neubauviertel und im Zentrum ein sehr zeitgeistiges Einkaufszentrum. Dies bildet mit seiner Fassade aus Videoprojektionen, spacigen Treppenhausgestaltungen und Läden aller internationalen Firmen einen Gegenpol zum Kaufhaus GUM. Hier gehen die jungen Leute gucken und diejenigen einkaufen, die es sich leisten können. Die Preise entsprechen denen im Westen oder sind teurer und für die durchschnittliche Bevölkerung sehr hoch.

Der Prospekt der Sieger ist eines der innerstädtischen Neubauviertel. Neben dem spacigen Kaufhaus befinden sich dort Wohn- und Bürohäuser, ein Sportstadion und Museen sowie eine großangelegte Grünfläche zum Wandeln und Vergnügen am Fluss Svislac.
Außerhalb des Zentrums gibt es ein weiteres, spektakuläres Neubauviertel. In dessen Zentrum steht die Nationalbibliothek, ein weithin sichtbarer Bau in Form eines Rhombenkub-Oktaeders. Nachts laufen über das Gebäude Lichtinstallationen mit Schriften und Mustern. Wir sitzen am Abend im Obergeschoss zum Essen mit tollem Blick über die Stadt. Leider entsprach die Qualität des Essens dem touristischen Ort…

In den U-Bahn-Passagen begegnen sich die unterschiedlichen Welten der Belarussen: hippe junge Leute auf dem Weg zur Arbeit oder zu Vergnügungen und ältere Frauen und Männer, die am Rand Blumen oder Obst aus dem eigenen Garten anpreisen.
Obwohl es in der 1984 eröffneten U-Bahn bisher nur zwei Linien gibt, soll es ein tägliches Fahrgastaufkommen von bis zu 900.000 geben. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind günstig und die U-Bahn verbindet die Hauptachsen der Stadt.

In einem ehemaligen Industrieviertel treffen wir auf eine Kunst- und Klubkultur, die wir so in Minsk nicht erwartet hätten. Die Fassaden der Hallen sind mit großflächigen Wandgemälden gestaltet und vor und in den Cafés trifft sich eine junge, coole Szene.
In einer der Hallen gibt es eine große Ausstellung mit Kunsthandwerk. Besonders die von skandinavischem Design inspirierten Möbel gefallen uns. Die Halle mit ihrer Balken- und Eisenkonstruktion bildet ein stimmiges Ambiente.

Wie sich Belarus weiter entwickeln wird, können wir nicht sagen. Sicher hängt viel an der Person Aljaksandr Lukaschenkos. Er ist seit der Unabhängigkeit Präsident, inzwischen 65 Jahre alt und in seiner fünften Amtszeit. Lukaschenko setzte sich schon früh für eine Neuauflage der Sowjetunion ein und wird von der Opposition für seinen diktatorischen Führungsstil kritisiert. Ob Werte demontiert, Ideale vom Sockel gestoßen oder neue Sockel für alte Inhalte gebaut werden, werden wir sehen. Belarus ist auf jeden Fall bemüht, den Tourismus anzukurbeln. Gerade wurde die Möglichkeit der visafreien Einreise für EU-Bürger*innen auf 30 Tage erhöht. Und durch die Öffnung des Landes kann sich schon einiges bewegen…

Die mobile Version verlassen